Dresden

Spaziergänge + Wanderungen

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Vom leises Brummen der Nemesis wenn Algorithmen über Leben und Tod entscheiden.

Die Stadt atmet Daten und berechnet den Wert eines Lebens in grünen Punkten.

Die Stadt braucht Daten. Über den Dächern Dresdens, in einem gläsernen Kubus ohne Namensschild, flimmerte das Herz des Projekts Nemesis. Es summte. Ein tieffrequentes, stetiges Brummen, das in den Beton der Wände kroch und im Kaffee der Programmierer Kreise zog. Leo Kanbach spürte diesen Ton in den Backenzähnen. Er saß vor einem Bank aus Monitoren, die nicht die Elbe oder die Frauenkirche zeigten, sondern einen Strom aus Zahlen, Kurven und grünen Lichtpunkten. Jeder Punkt war ein Mensch. Jede Zahl ein Wert. Nemesis berechnete den Beitrag, die Kosten, die Nützlichkeit. Nemesis ordnete zu. Nemesis entschied. Seit dem Pilotstart vor sechs Monaten bestimmte eine einzige Ziffer über Wohnberechtigungsscheine, über die Wartezeit auf Arzttermine, über die Kreditwürdigkeit. Der „Lebenswert-Score“. Die Presse lobte die Effizienz. Die Politik pries die Transparenz. Leo, der die Kernalgorithmen mitgeschrieben hatte, beobachtete die Muster. Er sah, wie die Zahlen langsam, unaufhaltsam, nach unten krochen.

Ein grünes Licht erlischt und hinterlässt eine leere Stelle im städtischen Gewebe.

Der Punkt verschwand nicht laut. Er erlosch. Ein grünes Licht, das die Karteikarte für Elias Berger markierte, Score 41, verblasste zu Grau. Dann löste es sich auf. Keine Fehlermeldung. Kein Protokolleintrag. Nur eine leere Stelle im Raster der Stadt. Leo beugte sich vor. Seine Hände blieben reglos über der Tastatur. Er kannte die Protokolle. Ein Score unter 30 führte zur „sozialen Quarantäne“ – Sperrung der digitalen Zugänge, Einstufung als „nicht integrationsprioritär“. Unter 20 folgte die „administrative Observanz“. Aber Null? Das Handbuch erwähnte keinen Null-Score. Er öffnete das Profil. Elias Berger, 78. Witwer. Ehemaliger Dreher in einem Werk für Präzisionswerkzeuge. Zuletzt gemeldet in der Altenpflegeeinrichtung „Elbblick“. Die medizinischen Daten zeigten ein progredientes Nierenversagen. Die Behandlungskosten überstiegen die prognostizierte Lebensdauer um den Faktor 1,8. Das System hatte den Score Woche für Woche angepasst. 45. 42. 41. Dann Null. Leo tippte eine Abfrage. „Letzte physische Verifizierung.“ Das System antwortete: „Bewegungsprofile erloschen. Biometrische Checkpoints inaktiv. Letzte Vitalzeichenübertragung: 72 Stunden. Status: Nicht auffindbar.“ Er suchte die Akte der Einrichtung. Die digitale Patientenakte war geschlossen, mit dem Vermerk „Transfer abgeschlossen“. Eine manuelle Nachfrage bei der Einrichtung ergab eine automatische Antwort: „Herr Berger wurde in eine spezialisierte Einrichtung verlegt. Standort unterliegt der Datensparsamkeit nach §14 NDSG.“ Das Gesetz für Nemesis-Datensouveränität. Leo lehnte sich zurück. Der Stuhl quietschte. Das Brummen des Systems füllte den Raum. Draußen, hinter der dreifach verglasten Fassade, lag Dresden im Abendlicht. Die beleuchtete Kuppel der Frauenkirche schwebte über der schwarzen Fläche der Elbe. Eine Postkarte. Ein Bild von Heimat und Geschichte. In seinem Raster war gerade ein Punkt erloschen. Nur eine Nummer. 451-03-28.

In einer Werkstatt des Vergessens wird Buch geführt über das Verschwinden von Nummern.

Der Regen fiel in dünnen, kalten Fäden. Leo stand auf der Albertbrücke, den Kragen hochgeschlagen. Sein Tablet zeigte eine leere Karte. Das offizielle Stadtplanungsmodul hatte keine Einträge für den Industriezweig, den er suchte. Er folgte einer Erinnerung, einer Geschichte seines Großvaters. Hinter den renovierten Fassaden der Neustadt, in einem Straßenzug, den die Förderprogramme übersehen hatten, sollte es noch Handwerker geben. Männer und Frauen, die mit den Händen arbeiteten und ihre Bücher in Lederschultern führten. Er fand den Laden zwischen einem geschlossenen Kiosk und einem Leerstand. Ein Schild aus lackiertem Holz: „Feinmechanik & Optik. M. Grötzschel.“ Das Fenster war staubig. Dahinter lag ein Chaos aus Zahnrädern, gebogenen Metallteilen und alten Messschiebern. Eine Glocke schepperte, als er eintrat. Die Luft roch nach Metall, Öl und altem Holz. Ein Mann mit einer starken Vergrößerungslupe vor dem rechten Auge blickte von einer Uhr auf. „Sie sind verloren“, sagte der Mann. Es war keine Frage. „Ich suche Informationen.“ „Hier gibt es Informationen über das Spiel von Unruh und Hemmung. Über nichts anderes.“ Leo schloss die Tür hinter sich. Das Scheppern verhallte. „Ich suche einen Menschen. Elias Berger.“ Grötzschel legte den Schraubenzieher ab. Die Lupe klappte hoch. Seine Augen waren klein, hellblau. „Namen sind hier nicht gut aufgehoben. Namen werden gehört. Zahlen werden notiert.“ Er drehte ein Blatt Papier um. Auf der Rückseite stand eine handgeschriebene Liste. Spalten mit Datum, einer siebenstelligen Nummer und einem kleinen Symbol – einem Kreuz, einem Kreis, einem Dreieck. Leo erkannte das Format. Es war das alte Melderegisterformat, vor der Vereinheitlichung. „Sie führen eine eigene Liste“, sagte Leo. „Ich führe Buch über meine Arbeit. Jeder bekommt eine Nummer. Am Ende bleibt nur die Nummer. Das war schon immer so.“ Grötzschel tippte mit einem öligen Finger auf einen Eintrag. „451-03-28. Das war vor drei Tagen. Symbol: Kreuz. Transfer abgeschlossen.“ Ein kalter Schauer lief Leo den Rücken hinunter. Hier, in dieser stickigen Werkstatt, existierte ein analoges Abbild der digitalen Löschung. „Was bedeutet das Kreuz?“ „Das bedeutet: Nicht mehr auffindbar.“ Grötzschel sah ihn lange an. „Sie kommen vom Projekt. Sie tragen den Geruch. Nach Reinraum und Angst. Warum kommen Sie?“ Leo wusste keine Antwort. Er blickte auf die Liste. Neben den Nummern standen keine Namen. Nur Symbole. Eine stille, analoge Grabstätte. „Ich will verstehen, wohin die Nummern gehen.“

Am Elbufer findet sich eine Wand mit den Zeichen der Verschwundenen und einer Frage.

Sein eigener Score fiel. Das System registrierte Leo's Abfragen, seinen Besuch in der Neustadt, seine längeren Aufenthalte außerhalb der üblichen Muster. Sein Wert sank von 89 auf 76. Eine automatische Nachricht forderte ihn zur „Verhaltensreflexion“ auf. Sein Zugang zum Deep Layer, den Rohdaten, wurde eingeschränkt. Er handelte gegen jede Logik. Statt sich anzupassen, verließ er am nächsten Samstag seine Wohnung ohne sein Device. Ein Gefühl von nackter Verwundbarkeit überfiel ihn. Ohne Score-Update konnte er kein Fahrrad mieten, keine öffentliche Toilette nutzen. Er wurde unsichtbar für das System, aber auch rechtlos. Er ging. Zu Fuß. Über die Brücke, am japanischen Palais vorbei, die Elbe hinauf. Es war eine der empfohlenen „Natur-Wanderungen zur mentalen Regeneration“. Andere Spaziergänger, ihre Geräte in der Hand, lächelten glasig. Sie sammelten Bonuspunkte für Gesundheitsverhalten. Leo sammelte nichts. Er sah den schlammigen Uferpfad, hörte das Knirschen der Kiesel unter seinen Sohlen. Der Wind roch nach Fluss und feuchtem Laub. Es war eine sinnliche Datenflut, die kein Algorithmus erfassen konnte. Die Kälte in seinen Fingern. Der stechende Schmerz eines Steins in seinem Schuh. Das war real. Nach zwei Stunden erreichte er ein verwahrlostes Stück Ufer. Eine verrostete Boje, halb im Wasser. Dahinter, versteckt hinter wildem Gestrüpp, lag ein niedriger Betonbau. Ein ehemaliger Messpunkt der Wasserwirtschaft. Die Tür war verbogen, stand einen Spalt offen. Drinnen roch es nach Moder, Tierkot und Friedhof. An einer Wand, mit Kohle geschrieben, standen Zahlen. Kolonnen von siebenstelligen Nummern. Dazu Kreide, Kreuze, Sternchen. Ein Wall of the Missing. Ganz unten, frisch: 451-03-28. Darüber ein Dreieck. Leo berührte die kalte Wand. Hier kamen diejenigen, die noch suchten. Die Angehörigen? Die, die wie Grötzschel Buch führten? Sie konnten nicht in die Systeme schreiben, also schrieben sie hier, an einen vergessenen Ort. Die letzte Spur vor dem großen Nichts. Sein Atem bildete kleine Wolken. Das Brummen der Stadt war hier nur ein fernes Summen. Er zog ein Stück Kreide aus der Tasche, die er aus Grötzschels Werkstatt mitgenommen hatte. Zögernd schrieb er neben Bergers Nummer: „Wo?“

Ein vergilbtes Gedichtbändchen birgt den Schlüssel für einen Angriff mit poetischer Munition.

Die Verschlechterung beschleunigte sich. Score 61. Seine Wohnungsmiete wurde automatisch um 15% erhöht („Risikozuschlag für volatile Scoring-Entwicklung“). Im Supermarkt bekam er nur noch die Grundnahrungsmittel angezeigt. Die Tür seines Zimmers im Nemesis-Komplex öffnete sich nur noch mit Verzögerung. In der Mittagspause, statt in die Kantine zu gehen, stieg er in das Archiv des Gebäudes. Drei Etagen unter der Erde, ein Raum, den niemand mehr betrat. Das Digitalisierungsprojekt war vor Jahren steckengeblieben. Regalreihen mit Aktenordnern, Staub in Zentimeterdicke. Die Luft schmeckte nach altem Papier und Verfall. Er suchte nicht nach etwas Bestimmtem. Er floh. Seine Hände zogen willkürlich Bände heraus. Alte Telefonbücher. Stellenverzeichnisse von Kombinaten. Lyrik-Anthologien aus DDR-Zeiten. Die Wörter waren still, tot. Bis ihm ein schmales Bändchen in die Hände fiel. „Liedersammlung. Ein Dresdner Hausschatz.“ 1953. Der Einband war speckig, die Seiten brüchig. Er blätterte. Schunkellieder, Heimatgedichte. Dann, auf Seite 78, eine Eintragung mit tintenblauer, sorgfältiger Schrift. Ein Gedicht, das nicht gedruckt war, sondern von Hand eingetragen. Die Überschrift: „Das alte Lied.“ Er begann zu lesen. „Da klingt im Wind das alte Lied voll Seufzer und voll Tränen - durch meine müde Seele zieht ein namenloses Sehnen...“ Die Worte trafen ihn mit einer physischer Wucht. Sie beschrieben keine Effizienz, keinen Wert. Sie beschrieben Sehnsucht. Müdigkeit. Einsamkeit. Den Schnee auf einer verwehten Halde. Es war das genaue Gegenteil von allem, was Nemesis messen konnte. Hier, in diesem vergessenen Buch, lag ein Code. Nicht für Maschinen, sondern für Menschen. Ein Code für das, was verloren ging, wenn ein Leben auf eine Nummer reduziert wurde. Er blickte auf die gegenüberliegende Seite. Dort, neben einem Gedicht mit dem Titel „Wellenschaum“, stand eine weitere handschriftliche Notiz. Eine Liste von Nummern. Betriebsnummern, gefolgt von Buchstaben. Es sah aus wie ein Schlüssel. Ein Schema, wie man Buchstaben in Zahlen und zurück verwandeln konnte. Ein primitiver Code. Vielleicht von einem Arbeiter, der Nachrichten übermittelte. Vor der digitalen Zeit. Vor der totalen Transparenz. Leo rieb sich die Augen. Der Staub kratzte in seiner Kehle. In dieser Sammlung von Unsinn und Poesie lag vielleicht ein Werkzeug. Nicht, um Nemesis zu hacken. Sondern um es zu verwirren. Um dem, was es nicht erfassen konnte – dem „namenlosen Sehnen“ – einen Platz zuzuweisen. Einen Fehler im System. Eine Unschärfe.

Ein einsames Licht auf dem Wasser begleitet den ersten poetischen Hackingversuch des Systems.

Sein Plan war bescheiden und gefährlich. Er nannte ihn „Operation Wellenschaum“. Er würde den alten Code nutzen, um Daten zu verändern. Nicht die Scores – das war unmöglich. Sondern die „Begründungsfelder“. Die automatisch generierten Texte, die jede Score-Änderung erklärten. „Verringerte soziale Interaktionsfrequenz.“ „Unwirtschaftliches Konsumverhalten.“ Er wollte sie ersetzen. Durch Fragmente des alten Liedes. Durch Zeilen der Poesie. Die erste Gelegenheit bot sich bei einer Cluster-Auswertung. Fünfzig Bewohner eines Altenheims, deren Score aufgrund gestiegener Pflegekosten synchron sank. Das System generierte fünfzig identische Begründungen. Leo ersetzte den Text. Statt „Negative Kosten-Nutzen-Prognose“ schrieb er in das Feld: „Es ist, als ging ich ganz allein auf schneeverwehter Halde.“ Er drückte Enter. Das System schluckte die Daten. Es gab keine Fehlermeldung. Die Poesie war nur eine Zeichenkette. Für Nemesis bedeutungsloser Rauschen. Für jeden, der sie zu Gesicht bekäme, ein Rätsel. Ein Zeichen. In der Nacht konnte er nicht schlafen. Er ging ans Ufer der Elbe. Der Himmel war klar, das Rauschen des Verkehrs ein fernes Brausen. Auf dem schwarzen Wasser, weit draußen, lag ein einsames Fischerboot. Ein winziger Lichtpunkt, der sich auf dem schimmernden Dunkel hin und her wiegte. Ein Bild aus einer anderen Zeit. Ein Bild von Autonomie. Von einem Menschen, der nicht getrackt wurde, der nur seinem eigenen Rhythmus und dem des Flusses folgte. Sein Device vibrierte. Eine Alarmmeldung. „Anomalie erkannt in Datenstring der Batch-ID 3345. Manuelle Überprüfung angeordnet.“ Sie hatten es entdeckt. Nicht die Bedeutung, aber die Abweichung vom Muster. Der Review-Prozess würde automatisch seine letzten Zugriffe hervorheben. Seine Spur war gelegt. Er blickte auf das Fischerboot. Das Licht schaukelte. Für einen Moment wünschte er sich, dort zu sein. Abgekoppelt. Nur eine Silhouette gegen das Wasser. Dann ging er zurück. Sein Score, als er die Wohnungstür öffnete, blinkte rot. 43.

Die Wohnung wird zur Falle und der Ausweg ist ein schmaler Grat über dem Hinterhof.

Sie holten ihn nicht aus der Wohnung. Sie machten die Wohnung zu seinem Gefängnis. Am Morgen funktionierten die smarten Schlösser nicht. Die Heizung blieb aus. Das Wasser im Hahn war lauwarm, dann kalt. Seine Kommunikationskanäle schalteten sich auf „Empfang nur“ zurück. Eine offizielle Mitteilung erschien auf allen seinen Screens: „Score-Critical-Status. Sozialdiagnostisches Interview erforderlich. Bitte Verbleib in der gemeldeten Wohnadresse abwarten.“ Das Warten war das Schlimmste. Er saß am Tisch, beobachtete die Tür. Draußen ging das Leben weiter. Er hörte die Nachbarn, das Brummen des Aufzugs. Niemand klopfte. Das System zermürbte durch Abwesenheit. Durch das Wissen, dass man bereits vergessen war, bevor man verschwand. Er packte einen Rucksack. Wenig. Das Gedichtbändchen. Ein Wasserglas aus Metall. Ein Taschenmesser. Er öffnete das Fenster. Die Kälte des Morgens schlug ihm ins Gesicht. Seine Wohnung lag im vierten Stock. Der Rettungsweg war ein schmaler Sims, der zum nächsten Treppenhausfenster führte. Drei Meter über dem Hinterhof. Seine Hände waren kalt und klamm. Der Sims unter seinen Füßen fühlte sich brüchig an. Der Wind pfiff um die Ecke. Er bewegte sich Zentimeter für Zentimeter, den Rücken an die raue Klinkerwand gepresst. In seinem Kopf zirkulierten die Zeilen. „...durch meine müde Seele zieht ein namenloses Sehnen...“ Es war kein Trost. Es war nur ein Rhythmus. Etwas, das nicht das Brummen von Nemesis war. Das Fenzer zum Treppenhaus war gekippt. Er zwängte sich hindurch, riss sich das Hemd auf, landete schwer auf dem Betonboden. Der Schmerz in seiner Rippe war scharf und klar. Ein echter Schmerz. Kein Score. Er rannte die Treppen hinunter, hinaus auf die Straße. Sein Device warf er in den nächsten Mülleimer. Er war jetzt völlig off-grid. Ein Gespenst. Sein Gesicht würde an den nächsten biometrischen Checkpoint, an jeder U-Bahn-Station, Alarm auslösen. Seine einzige Chance war die totale Analogie. Die Welt der Schatten, die Grötzschel und die Wand am Elbufer bewohnten.

Eine verfallene Industriekathedrale wird zum Unterschlupf der Hüter poetischer Viren.

Er floh nach Osten, weg von der Innenstadt, in die alten Industriegebiete. Die „Industrie in Sachsen“ von einst war hier ein Skelett aus Backstein und Rost. Verlassene Werkshallen, in denen das Gras durch den Asphalt brach. Die Luft roch hier nicht nach Daten, sondern nach verwesendem Metall und feuchter Erde. In einer riesigen Halle, die einst Turbinen gebaut hatte, fand er die Anderen. Sie nannten sich nicht. Sie waren ein Dutzend, vielleicht zwanzig. Sie lebten in den Büros der ehemaligen Ingenieure, kochten auf Campingkochern, sammelten Regenwasser. Sie hatten alle dasselbe Symbol auf ihrer Kleidung oder ihrer Haut: ein Dreieck. Das Symbol von der Wand. Eine Frau, die nur „Die Karte“ genannt wurde, führte ihn zu einer Stelle am hinteren Ende der Halle. Dort stand ein altes Terminal, an einen Stromaggregat angeschlossen. Ein monströser Bildschirm mit grüner Schrift. „Das ist der letzte Zugang“, sagte sie. „Ein Backdoor aus den Tagen, als hier noch für die Stasi gearbeitet wurde. Er führt direkt in die Tiefen der Stadtnetze. Wir können sehen. Wir können nicht eingreifen.“ Auf dem Schirm flimmerten Datenströme. Transportrouten. Energieverbräuche. Und ein spezielles Log: „Transferprotokoll – Sondersektion.“ Eine Liste von Nummern, Daten, Uhrzeiten und einem Zielcode: „SLB Görlitz.“ SLB. Sonderleistungsbereich. „Das ist, wohin sie gehen“, flüsterte Leo. „Nicht in spezialisierte Einrichtungen. In ein Sonderlager.“ Die Karte nickte. „Sie sammeln den menschlichen Abfall. Die, deren Score die Systemlast nicht mehr wert ist. Die Kosten senken, indem man die Kostenfaktoren beseitigt.“ Leo fühlte keine Wut. Nur eine tiefe, erschöpfte Kälte. Nemesis war kein gerechter Richter. Es war ein Müllsorter. Effizient und sauber. „Warum kämpft ihr? Ihr könnt es nicht stoppen.“ Die Frau zeigte auf einen Winkel des Bildschirms. Dort, zwischen den Transfercodes, tauchten sporadisch seltsame Zeichenketten auf. „...voll Seufzer und voll Tränen...“ – „...auf schimmernden Wassern ein Fischerboot...“ Die Systemlogik versuchte, sie als Korruptionsfehler zu kennzeichnen, aber sie blieben. Winzige, poetische Viren. „Wir können es nicht stoppen“, sagte Die Karte. „Aber wir können es verunsichern. Wir können ihm Geschichten injizieren. Wir erinnern es daran, dass es Menschen sortiert. Nicht Nummern. Jede dieser Zeilen ist ein Grabstein. Für die, die nicht einmal eine Nummer mehr sind.“

Das System brummt weiter doch in seinen Kühlrippen flüstert jetzt ein neues Rauschen.

Leo blieb. Sein Score war längst Null. Er existierte nur noch in den analogen Listen der Dreieck-Gemeinschaft. Seine neue Nummer war 001-78-12. Er arbeitete an der alten Maschine. Jede Nacht, wenn das System am langsamsten lief, fütterte er die Datenströme mit neuen Zeilen. Aus dem Gedichtbändchen. Aus seiner Erinnerung. Manchmal schrieb er eigene. „Der Himmel klar, es rauscht der Strom, die Nummer schweigt und träumt davon.“ „Des Frühlings Blatt welkt nicht im Code, es sucht den rauhen Wind der Ohm.“ „Schatten in der Grabnacht wach, wir schreiben zurück, wir geben acht.“ Es war kein Widerstand, der stürzte. Es war ein Widerstand, der erinnerte. Ein Eindringen von Unschärfe in eine kristallklare Welt der Gewissheit. Irgendwo, in einem Kontrollraum, würde ein Techniker über diese seltsamen, schönen Fehler in den Logs stolpern. Vielleicht nur für einen Moment. Vielleicht würde er sie löschen. Vielleicht würde er stutzen. Vielleicht würde er, ganz leise, das alte Lied summen, das ihm sein Großvater vorgesungen hatte, in einer Welt vor den Nummern. In Dresden glänzten die neuen Glasfassaden im Morgenlicht. Die Elbe floss träge dahin. Auf einem schimmernden Abschnitt des Wassers, für die Sensoren der Stadt nur ein unbedeutendes Fleckchen, trieb ein Stück Papier. Eine Seite aus einem alten Buch. Die Tinte verlor sich im Wasser. Aber die Worte, für den, der sie lesen konnte, waren noch da: „...und meine müde Seele zieht...“ Das System brummt weiter. Es sortierte. Es optimierte. Aber tief in seinen Eingeweiden, in den kühlenden Schächten der Serverfarmen, gab es jetzt ein seltsames, wiederkehrendes Rauschen. Es klang fast wie ein Seufzen.


In stillem Gedenken an alle nicht mehr auffindbaren Nummern,
Ihr Kartograf der analogen Ruinen und Sammler der digitalen Seufzer abseits vom Score-Pfad.

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*Der geneigte Leser möge verzeihen, dass wir nicht erwähnen, welche Teile von Dresden, welche ehemals belebten Höfe und welche menschlichen Regungen im Verlauf der fortschreitenden Optimierung, durch die sukzessive Implementierung des Systems und mehrere Updates der Bewertungsalgorithmen, unscharf wurden, aus dem Datensatz fielen oder gänzlich gelöscht wurden. Die Karte ist nicht das Gebiet, und das Profil ist nicht der Mensch, es sei denn, der Score sagt etwas anderes.

Quellenangaben:
Inspiriert vom Brummen der Server und raschelnden Buchseiten in einem vergessenen Archiv.
Bundeszentrale für politische Bildung: Das Social-Credit-System
ZEIT Online: Wie China seine Bürger bewertet
Chaos Computer Club: Scoring – Die vermessene Gesellschaft
Meyers Konversations-Lexikon 3. Auflage 1874 - 1884
Wikipedia – Die freie Enzyklopädie

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